Die Hände sind für uns Musiker (und nicht nur für uns Musiker) wichtig.
Unser Körper ist uns wichtig. Der Geist ist uns wichtig.
Als Musiker stehen wir immer vor der Herausforderung, unsere intensive Übungsroutine mit einer regelmäßigen körperlichen Bewegung zu kombinieren. Ich bin leider kein gutes Beispiel dafür. Ich habe einfach keine so gute Beziehung dazu. Es fällt mir absolut nicht einfach, am Ende des Tages nach dem Üben und der Arbeit auch noch das Fitnessstudio zu besuchen. Neidisch schaue auf euch, die mit Enthusiasmus und Energie regelmäßig Sport treiben und frage mich:
Wie macht ihr das? Gibt es ein Patentrezept dafür?
Ich suche nach Ausreden, um mich selbst davon zu überzeugen, dass zu Hause zu bleiben unter allen nur denkbaren Umständen die vernünftigste Entscheidung ist. Ich belüge mich tatsächlich selber und darüber ärgere ich mich. Das weiß ich. Sollte ich mich dann doch aufraffen, merke ich aber ganz deutlich, dass mir der Sport wirklich gutgetan hat.
Heute möchte ich euch von einem kurzen Ereignis aus meiner Berliner Zeit erzählen, in der ich bei all dem Trubel mein Training häufig vernachlässig habe…

Es geht um meine linke Hand und um einen akuten Schmerz am Daumen, unter dem ich chronisch über einen Zeitraum von sechs Monaten litt. Vorab muss ich ehrlich zugeben, dass ich das Training lange vernachlässigt hatte.
Jetzt werdet ihr sofort denken: Karpal Tunnel. Naja, das dachte ich auch, aber zum Glück war es nicht so!
Das Eigenartige an der Geschichte war, dass dieser Schmerz nur während bestimmter Bewegungen und Tätigkeiten wie Dinge hochheben oder Teller abwaschen auftrat, aber nie beim Spielen. Ich war aber überzeugt davon, dass es sich um ein Karpaltunnelsyndrom handeln musste.
Nichts hätte falscher sein können. Obwohl der Daumen der linken Hand ständig dazu bereit sein musste, die Überblas‐Klappe zu öffnen oder wieder zu schließen, hat dieses chronische Problem nie meine musikalische Leistungsfähigkeit beeinträchtigt.
Ich fange aber von vorne an und muss kurz auf eine Vorgeschichte zurückgehen:
Als ich nach Berlin umgezogen bin, hatte ich gerade mein Studium in Salzburg am Mozarteum abgeschlossen.
Was mache ich jetzt? Bin ich arbeitslos? Ich musste gegen diesen Gedanken ankämpfen.
Denn dies war damals meine größte Sorge. „ JA, es ist so, Flavia“, sagte mein Papa. „Und das musst du akzeptieren. Du bist nicht die Einzige auf der Welt, die gerade nach dem Studium keine Arbeit hat. Mut fassen und nicht aufgeben. Jetzt beginnt der schwerste Teil.“ Er hatte, wie immer, recht.
Wenn ich zurückblicke, muss ich zugeben, dass es die schwierigste Zeit meines Lebens war. Während meines Studiums hatte ich mir viel Mühe gegeben und mich zu 100 % auf die Vorbereitung für mein Prüfungs-Probespiel konzentriert. Ich hatte mich quasi von der Welt da draußen isoliert und den Blick für die Realität verloren. Ich wohnte in meiner eigenen Wohlfühlzone, bestehend aus Klarinette spielen und wieder Klarinette spielen. Als Student gibt es natürlich keine finanzielle Sicherheit, aber man hat viele verschiedene Vorteile, die das Leben eines Musikers leichter machen: Die Möglichkeit, leicht einen Übungsraum zu finden, günstige Miete, kostenloses Abo für den Nahverkehr, reduzierte Beiträge bei der Krankenkasse…feste Tagesabläufe.
Als ich nach Berlin umgezogen bin, sah ich mich mit einem ganz anderen Szenarium konfrontiert, das mir meine lange geschlossenen Augen öffnete. Ich musste bürokratische Sachen in der für mich schwierigen deutschen Sprache erledigen, auf die ich gar nicht vorbereitet war (um das Ganze zu erzählen, bräuchte ich noch einen Beitrag) und ich musste mich auch gleichzeitig in der neuen Stadt eingewöhnen. Berlin ist eine wunderschöne Stadt, aber gar nicht einfach am Anfang, zumindest ist es ganz anders als das nette und ruhige Salzburg. Natürlich war ich parallel auf der Suche nach einer Arbeit und nach Konzertmöglichkeiten.
Ich habe mich bei ca. 100 Musikschulen beworben und an vielen Probespielen teilgenommen. Selbstverständlich musste ich trotzdem weiter üben. Nach einem Monat konnte ich die ersten Konzerte in Berlin spielen, wofür ich wiederum eine gute Vorbereitung brauchte. Zudem konnte ich die ersten Unterrichtsstunden in zwei Musikschulen übernehmen. Es war eine große Umstellung, die mich auf die Probe stellte, und mit der ich so nicht gerechnet hatte. Aus Begeisterung und mit dem Grundsatz „Ich will es schaffen!“ standen plötzlich zu viele Dinge gleichzeitig im Fokus, was mein Körper aber langsam nicht mehr aushalten konnte.
Jetzt, während ich diese Zeile schreibe, nach drei Jahren, merke ich (auch mit ein bisschen Stolz), wie viel ich allein geschafft habe und wie ich in den ersten sechs Monaten in diesem Alltag versunken bin, ohne mich zu bremsen und ohne Rücksicht auf meinen Körper zu nehmen.

Eines Tages tauchte beim Aufstehen ein Stechen in meinem linken Daumen auf.
Über einen Zeitraum von sechs Monaten war dieser Schmerz meine größte Sorge, die ich nicht ignorieren konnte und die immer fester Bestandteil meiner Gedanken war. Ich hatte mich selbst davon überzeugt, dass es sich um ein Karpaltunnelsyndrom handeln musste.
In der Hoffnung, eine Lösung zu finden und eine Verbesserung zu erlangen, habe ich für fünf Monate verschiedenste Arztpraxen in Berlin aufgesucht. Ohne Erfolg. Ein langes Hin und Her, das mich zu einem Orthopäden brachte – der Einzige der einen freien Termin hatte, – zu dem ich aber langsam das Vertrauen verlor. Ich fand seine Untersuchungen zu kurz und sehr oberflächlich. Er wollte mir die ganze Zeit nur Cortison spritzen, ohne mich ernst zu nehmen und ohne Erklärungen zu liefern. Er sprach über eine OP, obwohl die RMT nichts an meiner Hand nachwies, was einen Eingriff gerechtfertigt hätte „Die Musiker haben oft solche Schmerzen des Bewegungssystem. Es gehört dazu“, sagte er immer. Eine innerliche Stimme sagte aber mir, dass ich bei ihm nicht richtig war und dass ich weitersuchen musste.
Dank des Vorschlags eines Kollegen aus der Musikschule bin ich zufälligerweise im Berliner Centrum für Musikermedizin (BCMM) gelandet.
Es war reine Glückssache, dass ich sofort einen Termin bekam. Ich wusste gar nicht, dass es ein Centrum für Musiker gibt, dem die Gesundheit der Musiker*Innen am Herzen liegt. Das war für mich die beste Nachricht, die ich bekommen konnte. Das Licht am Ende des Tunnels. Der erste Termin dauerte zwei Stunden. Die erste Frage: „Wie geht´s Ihnen?“, überrumpelte mich. An so viel Aufmerksamkeit und aufrichtiges Interesse war ich nicht gewöhnt. Ich war davon überzeugt, dass es der Karpaltunnel war und konnte mir nicht vorstellen, dass das Problem woanders liegen könnte.
Vor der Untersuchung wollten sie, dass ich von meiner Vorgeschichte, von meinem Alltag und meiner Selbstwahrnehmung berichte.
„Befinden Sie sich grade in einer Stresssituation hinsichtlich der vielen Probespiele?“ – „Wie fühlen sie sich bei der Vorbereitung und bei dem Vorspiel?“ – „Reisen Sie viel?“ – „Sind Sie mit sich selbst zufrieden?“ – „Seit wann wohnen Sie in Berlin?“ – „Fühlen Sie sich hier wohl?“
Zum ersten Mal nach fünf Monaten wurde ich gefragt: „Haben Sie Schmerzen beim Spielen?“.
In diesem Moment realisierte ich, dass ich NIE Schmerzen beim Spielen empfunden hatte.
„Liebe Frau Feudi, Sie haben nichts. Das Problem ist im Kopf. Dieser Schmerz kommt nach vielen Monaten der großen körperlichen und seelischen Belastung. Sie müssen sich entspannen und ihre Ruhe finden“, sagten die Ärzte – Alexander Schmidt und Isabel Fernholz- des Berliner Centrum für Musikermedizin (BCMM).
„Wir sind fest davon überzeugt, dass sobald Sie ihren Weg finden und mehr Ruhe haben, der Schmerz verschwinden wird.“
Ich war skeptisch. Ich bin nicht leicht zu überreden. Ich wollte eine praktische Lösung und das am besten sofort. Die Lösung war aber nur in mir zu finden. Zum ersten Mal seit sechs Monaten musste ich feststellen, dass ich jemanden getroffen hatte, der mich erst nimmt und mir zuhört. Diese Ärzte hatten mein Vertrauen komplett verdient und ich musste ihnen „glauben“.
Sie hatten Recht. Es gibt nichts anderes zu sagen.
Zwei Monate später hatte ich verstanden warum. Mit kühlem Kopf und Ehrlichkeit zu mir selbst konnte ich von dem Gespräch profitieren. Sie konnte endlich meine Gefühle entschlüsseln und mir helfen, mich selbst besser zu verstehen und zu akzeptieren.
Dass ich mich selbst oft unter Druck gesetzt hatte, war mir zwar schon bekannt, aber nur in diesen Monaten konnte ich den Mut fassen, um mein Leben in bessere Bahnen zu lenken. Ohne mich zu verurteilen, hatte ich für mich die Zeit gefunden, mich mit mir selbst zu beschäftigt und ehrlich „zu mir zu sprechen“.
Nach zwei Monaten habe ich meine Stelle als Klarinettenlehrerin bekommen. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese neue Einstellung mir geholfen hat, meine Kräfte und meine Mühe auf den richtigen Weg zu fokussieren. Als ich nach Lauffen am Neckar umgezogen bin, habe ich mit einem neuen Leben begonnen. Ich hatte eine feste Arbeit, eine Wohnung für mich, eine neue Herausforderung vor mir und…die Freude, etwas mit meiner Kraft erreicht zu haben.
Der Schmerz ist langsam weggegangen. Eines Morgens bin ich aufgestanden und habe realisiert, dass ich seit vier Tagen keinen Schmerz mehr gespürt hatte. Ich hatte ihn sogar vergessen. Es bedeutete Freiheit für mich. Endlich. Was hat mich diese Episode meines Lebens gelehrt? Dass ich zwar nicht alles kann, aber schon ganz gut in den meisten Dingen bin.
Ich habe mich neu erfunden und mir selbst versprochen, mich in schwierigen Zeiten an dieses Ereignis zu erinnern.
Vielen herzlichen Dank!
