Meine Erfahrung von zu Hause
Es ist soweit.
Ich fühle mich wie bei meinem ersten Unterrichtstag, als ich frisch nach dem Studium
meine erste Unterrichtsstunde in einer privaten Musikschule in Berlin gegeben habe.
Heute werde ich offiziell mit dem Online-Unterricht starten und trotz der in diesen Jahren gesammelten Erfahrung, spüre ich eine ungewöhnliche Unsicherheit und Verletzbarkeit in mir. Werde ich die Schülererwartungen, bzw. meine Anforderungen an mich selbst, erfüllen?
Es liegt eine sehr lange Woche vor mir!
33 Stunden, 5 Tage, 41 Schüler!
Ich drücke mir fest die Daumen.
Oberste Priorität hat erstmal, dass sich die Schüler in dieser neuen Situation wohlfühlen und dass der Online-Unterricht bei ihnen ein gutes Gefühl hinterlässt.
Natürlich wünsche ich mir, dass sie daraus auch was mitnehmen können, dies aber nicht um jeden Preis. Es wäre frustrierend, zu versuchen, unser gewöhnliches Unterrichtsverfahren komplett online durchzuführen und damit ein unflexibles Standardmodell zu verfolgen.
Was meine ich damit?
Wir wagen vorsichtig die ersten Schritte in einer neuen Unterrichtsrealität, mit der sich die Schüler noch nicht so gut auskennen und der die meisten skeptisch gegenüberstehen.
Deswegen möchte ich möglichst einen Raum bieten, in dem sie sich gut ausdrücken und behaglich fühlen können. Den sonst ausführlichen und getakteten Ablauf des Lehrplans werde ich in dieser ersten Woche vorsichtig angehen und bei Bedarf auch in den Hintergrund stellen, wenn es für die Schülerwahrnehmung förderlich ist.
Das heißt natürlich nicht, dass der Unterricht inhaltslos oder ziellos sein wird, sondern dass ich mir vornehme, das Wohlbefinden der Schüler an die erste Stelle zu setzen.
Druck, Überforderung und der Zwang, unbedingt temporeich etwas Neues lernen zu müssen, wird aus meiner Sicht nicht unbedingt etwas Gutes bringen. Ich lasse also die Schüler den Unterrichtsrhythmus vorgeben und darauf werde ich mich pädagogisch und didaktisch einlassen und orientieren.
Mit diesen Vorsätzen wünsche ich mir, dass wir gemeinsam sowohl technisch als auch musikalisch im Online-Unterricht fortschreiten und lernen können. Es ist nicht die Frage, ob dieses System in der Lage ist, unseren normalen Unterricht zu ersetzten, sondern wie wir es am besten umsetzen können.
Das ist leichter gesagt als getan, aber „Nihil dificile volenti”. Also, es ist Montag, 20.4.2020 14.00 Uhr: Es geht los!
In dieser Woche habe ich viele verschiedene Erfahrungen mit so unterschiedlichen Schülern erlebt und viel davon gelernt. Mein Vorteil ist, dass ich sie schon seit einer gewissen Zeit menschlich und musikalisch kenne und das Verhalten gut entschlüsseln kann. Wie erwartet, kamen verschiedene Reaktionen, an die ich mich anzupassen versucht habe.
Einige waren in der Interaktion schneller und konnten sich besser orientieren, andere kamen am Anfang nicht so gut damit klar, konnten aber schließlich einen guten Abschluss finden.
Trotz der großen Anstrengung, die ich fühle, während ich diese Zeilen schreibe, bin ich mit dem Verlauf sehr zufrieden und zuversichtlich: Es war schön, so oft zu hören: „Ich freue mich schon auf die nächste Woche”.
Da ich aktuell 41 Schüler unterrichte, werde ich hier nur von wenigen Beispielen berichten, die ich für sehr interessant halte.
(Name und Geschlecht wurden verändert.)
R., mit der ich keinen Kontakt in den vergangenen Wochen hatten, weswegen ich skeptisch war, ob sie sich in dieser außergewöhnlichen Situation, in die sie hineinkatapultiert wurde, wohl fühlen würde. Entgegen meiner Erwartungen war es eine sehr schöne Stunde, in der wir uns auf die technischen Aspekte der Läufe über F-Dur konzentriert haben. Wir haben die sogenannte Ping Pong Methode angewendet, das heißt Vor- und Nachspielen, die auch viel Raum für die Fantasie und Improvisation gelassen hat. Anschließend haben wir an dem ersten Satz der Serenade von Iwan Müller gearbeitet.
S.: S. hatte für das Auswendigspielen der Tonleitern und Dreiklänge keine große Leidenschaft. Wir hatten intensiv an der Vorbereitung D1 Lehgang gearbeitet (die leider abgesagt wurde) und versucht, das Problem zu bewältigen.
Ich wollte nicht zuerst mit den Tonleitern anfangen, um ihn nicht direkt unter Druck zu setzen. Jedoch hat S. selber vorgeschlagen, mit den TL anzufangen und konnte fehlerfrei drei davon auswendig spielen.
(Ich bin mir sicher, er hatte keine Noten woanders versteckt). Also, da war ich aber wirklich positiv überrascht. Es ist klar, dass er sich außerhalb einer Prüfungssituation, die ihm Stress bereitet, besser ausdrücken konnte.
Obwohl wir noch daran arbeiten müssen, mit Lampenfieber und mit Stress umzugehen, habe ich betont und ihm verdeutlicht, dass er es wirklich KANN und dass sich die Übung gelohnt hat. Ich habe ihn ermutigt, so weiterzumachen und sich nie zu unterschätzen.
M.: Es gibt Sachen, die auf der Online-Plattform nicht bearbeitet werden können. Andere lassen sich jedoch gut umsetzen, wie die Fingerübungen und die Arbeit an der Ausdauer des Luftstrahls durch die Fokussierung auf die eingetragenen Atemzeichen. Darauf habe ich mich mit M. konzentriert. Es war eine tolle Onlinestunde, die mich nachhaltig inspiriert hat. Wir haben mit Tonleitern F-Dur, G-Dur und C-Dur über zwei Oktaven angefangen. Ziel war es, jede zweite Oktave zu atmen und sich auf die Luftführung zu konzentrieren. Anschließend haben wir uns an die Akkord Etüde n.1 in C-Dur aus„der Demnitz Elementarschule für Klarinette“ gewagt, mit dem Schwerpunkt Fingerübungen und Fingerkoordination.
Das Vor- und Nachspielen der schwierigsten Passagen in verschiedenen Varianten hat sich schön angehört. Ich habe M. immer an die vorangegangene Luftarbeit erinnert und darum gebeten, daran zu denken – auch während der Übung der Etüde. An der Artikulation haben wir in unseren letzten Stunden gearbeitet: Da konnte ich große Fortschritte sehen. Super! Das ganze Prozedere hat sehr gut funktioniert und M. (und mich auch) sehr motiviert. In den letzten Minuten des Unterrichts habe ich ihr vorgeschlagen, ein Lied nach Wahl zu spielen. „Ich nehme dasMozart Kegelduett n.2 , damit Sie auch mitspielen können.“, sagte sie. Naja, online geht‘s leider nicht, dachte ich sofort!
Da ich M. nicht enttäuschen wollte, habe ich einen schlauen Umweg gefunden: „Ich nehme sie gleich auf und schicke sie dir und sobald wir uns wiedersehen, können wir sie zusammen spielen und sogar aufnehmen.” Also haben wir einen Mittelweg gefunden für ein mittelfristiges Ziel.
W.: Unser ERSTE Stunde zusammen! W. spielt seit fünf Monaten Klarinette und mit dem neuen Semesterbeginn wollte sie mit mir Unterreicht haben. Sie ist super nett und total süß, aber natürlich ist die Situation an sich etwas besonders. Ich habe sie gebeten, mir kurz zu erzählen, was sie in diesen Monaten gemacht hatte, was ihr gefallen hatte und was sie heute gerne für mich spielen wollte. Um sie zu motivieren und nicht zu verschrecken, bin ich sehr behutsam vorgegangen. Sie hat für mich ein Lied nach Wahl aus der fröhlichen Klarinette Band 1 gespielt. Sofort habe ich gemerkt, dass sie nicht mit der Zunge anstößt, sondern mit dem Hals. Das kommt bei vielen Schülern am Anfang vor. Deswegen investiere ich dafür in den ersten Stunden viel Zeit. Ich habe ihr eine Übung angeboten, die sehr einfach scheint, aber effizient ist: Einen Ton nach Wahl in einem gemütlichen 4/4 Takt l in Viertel mehrmals anstoßen. Wenn man mit der Zungenbewegung klarkommt, probiert man es immer schneller und wird wieder langsamer. Dafür finde ich die staccato-Übungen in Band 1 der Reihe „Fröhliche Klarinette“ von Rudolf Mauz sehr gut geeignet. Sie bereiten den Schülern viel Spaß. Anschließend haben wir ein kleines Lied nach Wahl bearbeitet.
Dank der Rhythmussprache konnte sie einen schönen Zugang zu dem Lied finden und es erfolgreich entschlüsseln. Es gab auch Fälle bei einigen Schüler, wo ich deutlicher spüren konnte, wie sich ihre anfängliche Unsicherheit und Skepsis langsam zu Spaß und Neugier gewandelt hat. „Es war schön. Viel besser als ich dachte!”; das hat mich sehr gefreut.
Also, ich will euch nicht belügen: Es war sehr anstrengend und hat mich viel Energie gekostet. Ich bin aber froh, dass alle Schüler bzw. Familien das Online-Angebot angenommen haben und sich damit beschäftigt haben.
Das ist ein kleiner Vertrauensbeweis für mich und meine Arbeit. Ich habe versucht, frische Impulse zu geben und immer ein Lächeln zu schenken. Dank meines Instinkts konnte ich die Gefühle der Schüler schnell erkennen und spiegeln. Erfahrung + ein bisschen Improvisation haben ganz gut funktioniert. Ich musste mich neu erfinden und meine Kreativität weiterentwickeln. Es war eine Herausforderung, die ich gerne angenommen habe.
Mir gefällt es, so zu denken.
Denn wir sollten den Schülern zeigen, dass wir in der Lage sind, uns mit komplexen Dingen zu beschäftigen, um Schwierigkeiten lösen zu können. Wenn wir als Lehrer nicht überzeugend sind, werden wir unsere Schüler auch nicht überzeugen und motivieren können. Übrigens handelt Musik auch davon. Das Schwierigste für mich war es, kleine Ziele zu setzen, da die Vorspiele, Wettbewerbe oder das Zusammenspiel kurzfristig nicht konkretisierbar sind. Deswegen habe ich oft versucht, die Schüler für mittelfristige Ziele zu motivieren oder sie an ihre erfolgreichen bzw. schönen Erlebnis zu erinnern.
„Bitte mal oder kleb was Besonderes bei dem Lied auf, damit wir es zusammen spielen können, wenn wir uns wiedersehen.“
„Trag dir dieses Lied in deine Lieblingsstückliste ein. Sobald unser normaler Unterricht stattfinden wird, kannst du für mich das Lied nochmal vorspielen.“
„Erinnerst du dich an das Vorspiel im Januar? – Das war schön. Wir werden natürlich sofort nach der Corona Zeit ein Vorspiel organisieren.”
„Es war so schön, die Zusammenarbeit und die intensive Vorbereitung für Jumu. Ich vermisse es, aber ich bin stolz auf dich! Ich freue mich schon auf das nächste Jahr.”
Es gibt aber noch was anderes, was ich in dieser Woche ganz interessant fand und das ich gern mit euch teilen möchte: Ich habe die Schüler definitiv aus einer neuen Perspektive und in einem anderen Umfeld erlebt. Ich bin in ihre Häuser und Wohnungen eingetreten.
Viele haben mir ihr Spielzeug oder ihr Zimmer gezeigt. Ich hatte das Gefühl, dass diese außergewöhnliche Situation uns die Möglichkeit gegeben hat, noch eine zusätzliche gemeinsame Erfahrung zu sammeln und unsere Beziehung zu verstärken. Mein Leitspruch für die Schüler war: Es ist eine vorübergehende Zwischenlösung, von der wir trotz allem gemeinsam profitieren können. Wir halten es durch und helfen uns gegenseitig.
Ich denke, dass ich diese Woche nie im Leben vergessen werden. Klar, es gibt viele Nachteile, (so viele Stunden am Computer und im Sitzen), viel Ärger mit der Internetverbindung und der Audioeinstellung, viel Chaos mit den Geräuschen im Hintergrund, aber…
Ich bin trotz allem sehr froh, weil jede Stunde mit einem ehrlichen Lächeln angefangen und beendet wurde.